Einführung

 

Ein Text von Joachim Geil, Leopold Hoesch Museum, Düren

 

 

Zeichenwechsel – Papier als System

Neue Arbeiten von Ulrich Wagner

 

Ulrich Wagners neue Arbeiten markieren einen Zeichenwechsel: Eine Erweiterung der sprachlichen Mittel. Diese Erweiterung ist sowohl eine quantitative als auch eine strukturelle.

Ein Blick zurück: Seit den 80er Jahren entwickelt Wagner Zeichensysteme. Als Meisterschüler von Eduardo Paolozzi ist die ästhetische Umwandlung von Plänen und technischen Gegenständen zu graphischen Zeichensystemen für Wagner vertrautes Terrain. Er schafft offene Systeme von piktographischen Kürzeln, die bewusst auf Mehrdeutigkeit angelegt sind. Er lotet sie aus und schafft ein eigenes Gefüge komplexer Zeichen, die den Menschen als Träger bestimmter Merkmale wie zum Beispiel Geschlecht in seiner Umwelt andeuten, ohne jedoch konkrete Botschaften zu vermitteln. Diese Zeichen beruhen wie in Wagners Künstlerbuch von 1987 zunächst auf einer Linie, die sie als Kontur durchfährt, aufbaut und miteinander verbindet.
In den nächsten Jahren konzentriert sich das Zeichenrepertoire auf zumeist klassische Formen wie Dreieck, Kreis, Quadrat und Stab. Hinzu tritt eine spezifisch Wagnersche, von ihm entdeckte und entwickelte Messerform. Die Farbigkeit beschränkt sich auf die Primärfarben Gelb, Rot, Blau und Schwarz, die zumeist auf weißem Grund stehen.

Und nun ein Wechsel: Die klassischen Zeichenformen, in vertikalen und horizontalen Zeilen und Linien angeordnet, werden nun von Rastern abgelöst. Das heißt, die Einzelzeichen werden in einen Organisationskontext eingebettet, der zu neuen Strukturen und damit zu neuen Abhängigkeiten der Zeichen untereinander führt. Ulrich Wagners Raster beruhen auf abgewandelten lebensweltlichen und funktionsorientierten Zeichensystemen: auf Stadtplänen und Grundrissen.

Ein weiterer Blick weiter zurück: Im November 1927 nahm unter der Schriftleitung von Laszlo Moholy-Nagy das Bauhaus in Dessau einen Essay von Kasimir Malewitsch in die Bauhaus-Bücher auf, obwohl Malewitsch, wie die Schriftleitung bemerkte, „in grundsätzlichen Fragen von unserem Standpunkt abweicht.“ – Ein Gnadenbeweis der modernen Teleologie und Geradlinigkeit.
Unter dem Titel „Die gegenstandslose Welt“ erschien Malewitschs zweiteilige Schrift zum „Suprematismus“. Der erste Teil wird von verschiedenen Abbildungsreihen begleitet, u.a. von den Reihen „Die inspirierende Umgebung (‚Realität‘) des Akademikers“, „… des Futuristen“ und schließlich „… des Suprematisten“: Werden dem Akademiker Bilder von sowjetischen Bauern, einem Pferdegespann und einem Hund inspirativ unterstellt und dem Futuristen Lokomotiven, Automobile und Luftschiffe, so sind es beim Suprematisten graphische Strukturen wie Formationen von Flugzeugen und eben: Luftaufnahmen urbaner Distrikte, ausschnitthaft, doch von systemartiger Struktur.
Im Text stellt und beantwortet Malewitsch die Frage: „Was ist nun aber das Wesen und der Gehalt unseres Bewusstseins? – Die Unfähigkeit, das Tatsächliche zu erkennen!“

Geht man mit Malewitschs suprematistischer Anschauung vom Tatsächlichen als einer Vorstellung vom Wesentlichen und Beständigen aus, so stellt die Kartographie in der Tat Modelle eines „Tatsächlichen“ her: Sie schafft Orientierungsmodelle, die über graphische Strukturen „Welt“ repräsentieren, aber zugleich ein Gegenmodell zur Welt darstellen, ein Modell, das ihr unter Umständen gleichgeordnet ist, das im Extremfall im Maßstab 1:1 diese Welt bedecken könnte.
So referiert der französische Poststrukturalist Baudrillard zu Beginn seines Buches „Agonie des Realen“ das Prosastück „Von der Strenge der Wissenschaft“ von Jorge Luis Borges. Es handelt von den Kartographen eines Reiches, die eine so detaillierte Karte anfertigen, dass Karte und Territorium schließlich deckungsgleich werden. Baudrillard bemerkt dazu:
„Der Verfall des REICHES jedoch bringt es mit sich, dass die Karte nach und nach ausfranst und verfällt, bis schließlich nur noch Fetzen in den Wüsten erkennbar sind. Die metaphysische Schönheit dieser verfallenen Abstraktion ist wie das REICH Zeuge eines Übermutes, der sich auflöst, wie ein Kadaver verfault und schließlich wieder in die Substanz der Erde eingeht…“
Kongruenz als Auflösung des Zeichens ist sicherlich ein Endpunkt jedweden Weltmodells. Ulrich Wagner geht in die andere Richtung. Bei ihm ergibt sich die „metaphysische Schönheit“ vielmehr aus der Entfernung vom Referentiellen, ohne es ganz abzuschaffen. Die Karte wird transzendiert zu einer selbstreferentiellen Arbeit mit eigenen strukturellen Werten. Es wird das Modell eines Systems entdeckt und sichtbar gemacht. Systemtheoretische Reflexionen sind von zentraler Bedeutung in den Arbeiten von Ulrich Wagner.

So werden Stadtpläne von Manhattan und Mexico City auf ihre geometrischen und dabei wesentlichen Strukturen komprimiert: Die Linienraster und Rechtecke der kartographischen Orientierungspläne sind entgegenständlicht: Durch eine formale Reduktion auf graphische Grundformen. Der Blick wird befreit vom lebensweltlichen Zweck eines Planes, nämlich Orientierung und Wahrnehmung von Kohärenz. An ihre Stelle tritt die Wahrnehmung von Struktur, die das aufgegriffene System öffnet. Latente Bezugspunkte werden lediglich durch Anklänge an spezifische kartographische Spuren von Identität gebildet wie die gewundenen Linien der Wege durch den Central Park, die vom Raster abweichen.
Auf diese Weise werden zwei Bedeutungsebenen sichtbar: zum einen das abstrahierte Abbild eines urbanen Systems, zum anderen aber auch dessen Plan, dessen Idee. Dadurch wird ein komplexes soziales System in Grundzügen sichtbar, dessen Strukturen in ihrer formalen Strenge als intentional erkennbar sind: Grundlagen menschlichen Zusammenlebens und dessen Organisation werden als System erkannt und manifest. Und bei Manhattan und Mexico City handelt es sich in der Tat um zwei Städte, die auf dem Reißbrett geplant wurden.

Aus systemtheoretischer Sicht verdeutlichen die Raster der Arbeiten Organisationsinvarianzen, also unveränderliche Kennzeichen. Diese Kennzeichen geben Aufschluss über geistige und soziale Grundlagen menschlicher Kultur. Solchermaßen sind Ulrich Wagners Zeichen durch eine thematische Aufladung geprägt, die allerdings nie den Bedeutungsradius einengt und dadurch hermetisch oder apodiktisch wird – es sind eben keine Karten, schon gar nicht von identifizierbaren Orten.

Die Offenheit der Zeichen, die sich auch schon bei früheren Arbeiten Wagners durch die freie vertikale und horizontale Organisation der Einzelzeichen eingestellt hat, wird hier wesentlich verstärkt fortgeführt. Über frühere Arbeiten schrieb Eugen Gomringer bereits:
„Der Künstler betont, hebt hervor, suggeriert, stabilisiert, bewegt, mahnt, ordnet an, setzt Intervalle, stellt Fragen (ohne Fragezeichen!), antwortet, sagt ja und nein und entweder oder usw. Zeichensprache verführt auf einer Ebene, wo wir unmittelbar reagieren.“

Die thematische Auswahl geht bei Wagner einher mit einer äußerst stringenten formalen Konzeption und vor allem mit der technischen Erarbeitung des Papiers, das zum eigentlichen substantiellen Faktor und damit bildimmanent wird.
Bei der formalen Gestaltung unterscheiden sich inzwischen vor allem Farbe und Anordnung einschneidend von früheren Zeichensystemen: Die Grundfläche ist nun Schwarz. Die Raster sind in Ultramarin und Rot gehalten. Dabei kann sich die schwarze Grundfläche wie ein Vexierbild stets zu eingebetteten schwarzen Einzelformen wandeln. Was nun Zeichen und was nun umgebender Hintergrund ist, kann nicht mehr mit Sicherheit ausgemacht werden. Denn ein komplex organisiertes System schafft neue gegenseitige Abhängigkeiten, die statische Eindeutigkeit nicht mehr zulassen. Der amerikanische Systemwissenschaftler Ervin Laszlo fasst dies zusammen in dem Satz: „Das System als Ganzes ist determiniert, doch die Beziehungen seiner Teile nicht.“
Dazu siedelt Wagner auch graue Flächen und Formationen neben und unter den blauen an: Diese Überlagerungen von Einzelformen verstärken ein wesentliches wirkungsästhetisches Merkmal seiner Arbeiten: Latenz und semantische Offenheit. In ihrer farblichen Nähe sind die grauen Flächen mit wesentlich geringerer Deutlichkeit von der schwarzen Grundfläche zu unterscheiden als die blauen Felder und Linien. Sie bilden somit eine dritte Ebene zwischen Grund und Zeichen.
Eine ähnliche Wirkung zeitigt die Blindprägung: Hier werden Zeichen ohne farbliche Betonung in die Oberfläche eingeprägt und sind latent vorhanden. Sie kommen bei unterschiedlichen Lichtsituationen stark oder nur erahnbar zum Vorschein.

Auch die kompositorische Anordnung der Zeichen macht einen Wechsel deutlich, der eine starke Abweichung von der bisherigen Organisation zeigt: Die strenge vertikale oder horizontale Ausrichtung wird abgelöst von einer diagonalen:
Die Diagonale betont eine nicht ausgerichtete Unruhe, eine Bewegung, die sich nicht von den Bildrändern begrenzen lässt. Und tatsächlich: die Raster und Flächen sprengen den Bildrand, der das Bild als zufällig, ausschnitthaft und keineswegs als in sich geschlossenes System begreift.
Doch über allem steht schließlich die Erarbeitung des Materials, das natürlich mehr als einfach nur Material ist. In Wagners Arbeiten steht die substantielle Bedeutung des Papiers an zentraler Stelle. Es sind Papierarbeiten, nicht auf Papier sondern mit Papier. Und Papier ist nicht bloßer Bildträger. Vielmehr erlangt es seine Bildfähigkeit durch seine materielle Struktur.
Ulrich Wagner schöpft das Bütten in großformatigen Sieben in seinem Atelier, und dies nicht, um einen Bildträger zu besitzen. Die Herstellung ist Teil des Konzeptes: Sie erweist sich nicht nur als materielle, sondern auch als gedankliche Notwendigkeit.
Der Faserstoff wird zunächst pigmentiert und dann geschöpft. Dies bedeutet, dass die einzelnen farbigen Fasern nun im Wasser auf dem Schöpfsieb zusammenfließen. Sie gehen eine komplexe Organisationsstruktur miteinander ein. Alle Farbraster und Einzelformen werden nun auf die grundlegende schwarze Papierfläche als pigmentierter Faserstoff aufgegossen. Durch Gautschen, Pressen und Trocknen werden sie zu einem stabilen Gefüge vereint, das sich bereits als das erweist, was nun kompositorisch und thematisch zu künstlerischer Aussage verdichtet wird: eine systemische Ordnung.
Der aufwändige Herstellungsprozess der Papierarbeiten erweist sich so bei Ulrich Wagner als notwendiger Bestandteil seines künstlerischen Gesamtkonzepts. Das Zeichensystem beginnt bei der physikalischen Organisation des Faserstoffes zu Papier: Papier als System.

 

 

 

 

 

 

 

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