Im Schönen das Grauen – zum neuen Buchprojekt von Ulrich Wagner
Bereits in den 1990er Jahren hat Ulrich Wagner das Dreieck in seinen Zeichensystemen verankert. Nun gewinnt es eine gänzlich neue Dimension: In seinem neuen Buchprojekt erscheint es als Form des Bildträgers. Dies ist ungewöhnlich, auch und gerade als Format für ein Buch. Die Verknüpfung von Form und Inhalt, von Medium und Zeichen, ermöglicht dabei eine überraschende Wahrnehmungsweise. Das Buch als nachantiker Träger von Wissen und Sprache wird in der Regel durch Umblättern lesend erschlossen. Hier jedoch gilt es, nicht Buchstaben, sondern geometrischen Zeichen zu folgen, im Vorgang des Blätterns bleibt indes die Gesamtschau verborgen. Nur Ausschnitte von Einzelformen, die Wagner stets zu Rastern montiert, geraten in den Blickwinkel.
Einander überlappende Formen durchziehen das Buch als Gesamtraster, als imaginärer Plan, der allerdings nur in einem komplett aufgeklappten und entfalteten Zustand sichtbar wird. Die dreieckige Grundfläche, Wagners neue Bildfläche, ist in der geometrisch schlichten Schönheit wieder einem alten Thema auf der Spur, der Frage nämlich, wie eine Form zu einem Zeichen wird, wie eine wahrnehmbare, ja, im Extremfall als schön zu bezeichnende Form durch die Festlegung eines Kontexts oder durch die Verwendung der Form in einem festgelegten Kontext plötzlich dem Wohlgefallen stiller Betrachtung entrissen wird und einen rabiaten Zusammenhang erfährt. Bei Ulrich Wagner ist es der Zusammenhang der industriellen Tötungsmaschinerie der Nazis: Konzentrations- und Todeslager. Waren es bisher Grundrisse von Häftlingsbaracken oder einzelnen neuralgischen Funktionsgebäuden wie Entwesungsbaracke, Gaskammer oder Krematorium in Auschwitz-Birkenau, so kommt nun in der Verborgenheit der Grundfläche das Kennzeichnungsmerkmal der Lagerhäftlinge hinzu. Es taucht nur als Grundfarbe und Grundform des gesamten Buches auf, ist Grundlage, ohne in den Vordergrund zu treten und damit im Sinne einer politisch motivierten Gedächtniskunst zu wirken. Genau darin liegt die verlässliche Stärke Wagners: den Schwebezustand zu halten zwischen konkreter Formwahrnehmung, fragmentarischer Mehrdeutigkeit und erahnbarer festgelegter Bedeutung. Die Spannung ergibt sich zum einen aus dem Schönheitserlebnis der geometrischen Form, Komposition und handwerklichen Finesse, zum anderen aus dem Hintergrund des strategisch geplanten Grauens der Lagerhaft. Das konkrete historische Wissen um die Winkel im KZ, dass beispielsweise ein „politischer“ Häftling einen roten auf der Kleidung trug oder ein „Emigrant“ einen blauen, meldet sich als Störfaktor. Er hebelt die formale Betrachtung des aufwendig und hochwertig hergestellten Buches – Zeichen und Fragmente auf handgeschöpftem Bütten – aus und lässt etwas anderes dahinter aufblitzen. Dieses Andere wird zum Begleiter, der sich nicht mehr abschütteln lässt.
Die Verwaltung des Mordens manifestiert sich in blauen, grünen, violetten, gelben, rosa, braunen und schwarzen Winkeln. Eine gewohnte Symbolebene der Farbe wird ersetzt durch die erbärmliche des Naziterrors. So erweist sich der weiße Winkel, der kein Kennzeichen in der Lagerorganisation war, als Zeichen der Kölner Gestapo, die ihre Gefangenen damit von Häftlingen aus dem Lager in den Messehallen in Köln-Deutz unterschied. All diese Winkel werden in Ulrich Wagners Buch mit der reinen Form gleichseitiger Dreiecke kurzgeschlossen. Das Dreieck wird Kennzeichen und bleibt zugleich wahrnehmbare Form. Es erfolgt keine Festlegung, sondern eine Aufladung der Form, ohne diese äußerlich zu verändern.
Das verborgene Wissen als stiller, aber beunruhigender Begleiter des Betrachters ist Zentrum und Stärke der Arbeiten von Ulrich Wagner: die Betrachtung wird nicht beeinträchtigt, Botschaften werden nicht verkündet. Das Konzept überzeugt künstlerisch sowohl aus der Perspektive des Buches als auch der Objektkunst, gerade weil es weder Formspiel noch Bekenntnis ist. Mit dem vorliegenden Buchprojekt begibt sich Wagner auf ein künstlerisch gewagtes Terrain. Er umschifft die politischen und didaktischen Klippen und gelangt einmal mehr zu einer souveränen künstlerischen Sprache. Vergegenwärtigung durch die Struktur der Wahrnehmung, ohne Didaktik: der seltene Fall eines beispielhaft geglückten Umgangs mit Thema, Sprache und Material.
Joachim Geil, Schriftsteller, Köln
Winkelbücher in öffentlichen Sammlungen
- New York Public Library, USA
- Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Weimar, D
- The Jack Ginsberg Centre for Book Arts, Johannesburg, SA
- Bibliothèque Nationale de Luxembourg, L
- Deutsches Buch- und Schriftmuseum der Deutschen Nationalbibliothek, D
- Stanford University Library, USA
- Klingspor-Museum, Offenbach, D
- Wellesley College, Wellesley, USA
- Yale University, New Haven, USA
- LVR LandesMuseum Bonn, Bonn, D
Blauer Winkel I 2011
Sammlung Kaldewei, D
Jedes Buch ist ein Unikat.
Mehrere Exemplare pro Farbe.
Buchgröße: 36 x 41 x 8,5 cm (geschlossen)
Seitengröße: 187 x 193 cm (offen)
Seitenzahl: 36
Material: Baumwollhadern, Pigment
An ein Stück von Hand geschöpftes Bütten,
Grundrisse im Papierguss aufgebracht.
Jedes Buch ist nummeriert und signiert
Buchgröße: 48 x 48 cm (geschlossen), Seitengröße: 190 x 190 cm (offen), Seitenzahl: 36)
Roter Winkel VI 2012 Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Weimar, D |
Roter Winkel III 2012
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Gelber Winkel VIII 2014 Stanford University Library, USA
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Grüner Winkel VI 2014
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Rosa Winkel VIII 2014 New York Public Libary, USA
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Gelber Winkel II 2014 The Jack Ginsberg Centre for Book Arts, Johannesburg, SA |
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Weißer Winkel III 2011 LVR LandesMuseum Bonn, D |